Seit vielen Jahren arbeitet die Österreichische Gesellschaft für Nephrologie (ÖGN) nachhaltig daran, die Versorgung von Menschen mit chronischen Nierenerkrankungen sowie deren Folgeerkrankungen zu optimieren. Ziel einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion im Rahmen des 10. Nephrologie-Symposiums in Schladming war die Aufarbeitung der bisherigen Aktivitäten sowie die Definition eines roten Fadens für die Zukunft. Neben dem ÖGN-Präsidenten Prim. Prof. Dr. Karl Lhotta diskutierten Vertreter seitens Patientenorganisation, Hauptverband und Allgemeinmedizin.
Ohne Awareness bleiben 75 Prozent der Betroffenen unbehandelt
Einleitend stellte der Vorsitzende der ÖGN, Prim. Prof. Dr. Karl Lhotta, dar, dass die Epidemiologie von Nierenerkrankungen in Deutschland nahezu 1:1 auf Österreich umzulegen sei. Dort gäbe es bei rund 10 Millionen Menschen Hinweise auf chronische Nierenerkrankungen. Hinzu kommen zwei Millionen Personen mit glomerulärer Filtrationsrate (GFR) von unter 60 ml pro Minute. Das dramatische daran: „Nur 28 Prozent der Betroffenen mit einem GFR von unter 60 ml war überhaupt bewusst, ein Nierenproblem zu haben. Von diesen haben nur zwei Drittel eine entsprechende Therapie erhalten. Dem gegenüber haben drei Viertel gar nichts von ihrer Nierenerkrankung gewusst. Awareness zu schaffen ist die effektivste Maßnahme. Wir benötigen Screenings im Bereich der Risikogruppen. Kommen wir dem akuten Handlungsbedarf nicht nach, verlieren wir drei Viertel der Menschen, ohne die Chance auf Intervention überhaupt wahrzunehmen“, so Lhotta. Gemäß der Global Burden of Disease Study der WHO sind non-communicable diseases im Bereich der Niere bereits führend; Tendenz steigend. Problematisch bei Nierenerkrankungen ist, dass diese nahezu symptomlos voranschreiten und so tendenziell spät erkannt werden. „Menschen rechtzeitig der optimalen Therapie zuzuführen muss oberste Priorität haben. Das wird durch das Projekt Niere 60/20 forciert“, so Lhotta weiter. Es verfolgt den Ansatz, Nierenerkrankungen möglichst früh zu erkennen. Spätestens, wenn die Nierenleistung unter 60 Prozent fällt. So werden eine frühe Diagnose und Maßnahmen, die einerseits das Fortschreiten der Nierenerkrankung verzögern und andererseits das extrem hohe Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduzieren, überhaupt erst möglich. Sinkt die Nierenleistung unter 20 Prozent, kann der Patient in einem nephrologischen Zentrum in angemessener Zeit auf die Nierenersatztherapie (Hämodialyse, Bauchfelldialyse, Transplantation inklusive Lebendspende) vorbereitet werden.
Konzept Niere 60/20: Erster Erfolg in der Steiermark
Univ.-Prof. Dr. Alexander Rosenkranz, Nierenspezialist an der Universitätsklinik Graz und Co-Initiator des Konzepts berichtet von einem ersten Erfolg: „In der Steiermark trägt das Projekt den Namen niere.schützen. Mit 1. Jänner 2016 konnten wir das Konzept als erstes Bundesland implementieren. Mit der GKK haben wir uns darauf geeinigt, die Altersgruppe der 40-65-jährigen zu fokussieren. Alleine in dieser Personengruppe leiden 75.000 Menschen unter erhöhtem Blutdruck. Geht jemand aus dieser Gruppe zum Arzt, so prüft dieser auf Risikokonstellationen. Ist das Ergebnis positiv, soll in Folge die Nierenfunktion und die Eiweißausscheidung im Harn bestimmt werden“, so Rosenkranz, der parallel anmerkt, dass es in der Steiermark nur drei Labors mit entsprechender Kostenverrechnung gibt. Im Juni 2016 wird die GKK prüfen, ob die Bestimmung an Eiweißausscheidung in der Steiermark mengenmäßig zugenommen hat. „Ziel muss die landesweite Aufnahme ins DMP Programm Diabetes sein. Hier wird aktuell nur die Albuminorie berücksichtigt, nicht das Serumkreatinin“, so Rosenkranz zum aktuellen Status in der Steiermark.
Schulterschluss zwischen Allgemeinmedizin und Nephrologie
Für den steirische Allgemeinmediziner Dr. Oliver Lammel spielen die Hausärzte die zentrale Rolle bei der Dedektion von Nierenerkrankungen. „Wir haben einfach die meisten Patientenkontakte und kennen oft auch das ganze Umfeld unserer Patienten“. Die Bestimmung entsprechender Nierenparameter bekommt auch er nicht voll abgegolten. „Von meinem Labor kommt regelmäßig jemand und bringt die Proben nach Salzburg. Seitens der Krankenkasse würde man eines der beiden teilnehmenden Labors in Graz bevorzugen. Doch von dort nimmt niemand den weiten Weg zu mir in die Ramsau am Dachstein auf sich“, klagt Lammel, der somit theoretisch nicht am Projekt Niere 60/20 teilnehmen kann, dieses aber dennoch zu 100 Prozent unterstützt: „Nephrologische Aspekte sind extrem komplex. Etwa durch Fortbildungen im Rahmen von Niere 60/20 lernen wir die Einzelheiten besser zu verstehen“, so Lammel weiter. Für die Zukunft erachtet er eine Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmedizin und Nephrologie dringend notwendig.
Auch der Oberösterreicher Rudolf Brettbacher, Präsident der ARGE Niere, möchte Niere 60/20 nicht nur in seinem Bundesland forcieren, sondern tritt für eine rasche landesweite Umsetzung ein und betont größtmögliche Unterstützung: „Ich denke, wir können seitens der Patienten künftig einen essentiellen Beitrag, etwa bei Themen, die sich mit dem Leben Betroffener im Alltag befassen, leisten. Diese können wir aus den Ambulanzen abziehen und sie dadurch entlasten.“
HVB: Ziel muss eine landesweite Versorgung sein
In der Sozialversicherung ist es auf Grund der föderalistischen Strukturen nicht einfach, wenn es um die Umsetzung derartiger Projekte geht. Mag. Martin Schaffenrath vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger lebt in Tirol, wo man sich schon seit 2014 um die Installation von Niere 60/20 bemüht. „Das Beispiel Niere 60/20 veranschaulicht gut, das man in Österreich anscheinend zunächst in einem Bundesland erfolgreich sein muss um aufzuzeigen, dass Erfolg überhaupt möglich ist“, so Schaffenrath, der auch zu bedenken gibt, dass es mehr als sieben Jahre brauchte, um 50.000 Personen in das DMP Diabetes zu bekommen. Die Schuld für das zähe Vorankommen ortet er auch bei den über 3.000 Einzelverträgen innerhalb des Sozialversicherungssystems. Aus diesem Grund wurden jetzt im Hauptverband mehrere Arbeitsgruppen mit Aufgaben betraut, um diverse systemrelevante Prozesse und Leistungen zu hinterfragen. In der bundesweiten Finanzierung aus einer Hand sieht Schaffenrath einen sinnvollen Lösungsansatz. In Bezug auf die Kooperation mit den Allgemeinmedizinern, die für die Sozialversicherung erste Ansprechpartner vor Ort sind, wünscht er sich „eine sehr enge Zusammenarbeit, dass wir die Patienten rasch identifizieren und bestmöglich wohnortnah versorgen können.“
Zentrale Forderung: Freie Wahl der Nierenersatztherapie
Chronische Nierenerkrankungen haben Auswirkungen – weit über die Niere hinaus. Diverse Studien zeigen, dass ein GFR Wert von unter 75 ml mit einer massiv erhöhten kardiovaskulären Mortalität bzw. Herzinsuffizienz vergesellschaftet ist. Das ist bereits adjustiert auf sämtliche Risikofaktoren wie Hypertonie, Diabetes, Rauchen, etc. „Albumin und die Glomeruläre Filtrationsrate sind jedenfalls die am bestgeeignetsten Parameter, um etwas über die kardiovaskuläre Prognose eines Menschen in Erfahrung zu bringen“, so Lhotta. Die Österreichische Gesellschaft für Nephrologie (ÖGN) ist gerade der European Kidney Health Alliance (EKHA) beigetreten. Diese ist ein Verbund aus Patientenvereinen, Pflegeverbänden und Ärzten und verfolgt das Ziel, das Outcome für Betroffene chronischer Nierenerkrankungen europaweit zu optimieren. 2015 hat die EKHA Empfehlungen für eine Optimierung in Europa publiziert. ÖGN und EKHA fordern unisono das Screening von Risikogruppen, Zugang zu Transplantationen, entsprechende Rückvergütungssysteme zur Finanzierung und – allem voran – die freie Wahl der Nierenersatztherapie.
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